Gemeinsam mit seinem Co-Autor, Priv.-Doz. Dr. Thomas Luiz vom Fraunhofer IESE, hat sich Dieter Lerner für einen Fachzeitschriftenbeitrag mit der Bedeutung von virtuellen Patienten für das Lernen und Training in der Pflegeausbildung auseinandergesetzt: „Nah an der Realität. Lernen mit virtuellen Patienten“. Unter ‚virtuellen Patienten‘ werden interaktive computer-basierte Programme verstanden, mit deren Hilfe klinische Patientenszenarien möglichst realitätsnah dargestellt werden können. Diese virtuellen Patienten können auch in virtuellen Realitäten (kurz VR) eingebunden sein. Bei VR handelt es sich um synthetische, interaktive, multisensorische, räumlich dreidimensionale und navigierbare Umgebungen. Virtuelle Realitäten eröffnen den Gesundheitsfachberufen neue Wege für das realitätsnahe Lernen, ohne reale Patienten durch mögliches Fehlverhalten zu schädigen. Ein spannendes Thema, auch für unseren Bereich, daher baten wir Herrn Lerner um ein Interview.
Von welchen Faktoren ist der Lernerfolg mit Virtuellen Realitäten in der Pflegeausbildung abhängig?
Aktuelle Forschungssynthesen zeigen ein ähnliches Ergebnismuster: Lernerfolge sind von einer Vielzahl von Variablen im didaktischen Feld abhängig. Der durchschnittliche Lernerfolg ist nie nur abhängig von der eingesetzten Medientechnologie, sondern auch von der mit dem Medieneinsatz verbundenen didaktischen Methode und des Ausmaßes der curricularen Integration. Natürlich sind auch Fragen des konkreten medientechnischen Designs von besonderer Bedeutung. In medientechnischer Hinsicht zählt dazu die Entwicklung bzw. Integration verschiedener Design-Features, wie z. B. pflegespezifische Narrationen und eine inhaltlich-domänenspezifische Ausgestaltung mit Darstellung von virtuellen Patienten in Pflegebedarfssituationen.
Was muss passieren, damit wir schneller von den neuen Technologien wie VR in der Pflegeausbildung profitieren?
Es bedarf dazu einer Förderung von sowohl Grundlagenforschung als auch angewandter Forschung. Bezüglich der Grundlagenforschung erschienen in den vergangenen Jahren mehrere Studien, in welchen die Auswirkungen verschiedener gestaltungsbezogener Aspekte von virtuellen Realitäten auf die Lernleistung analysiert wurden. Der Forschungsstand dazu ist sehr variantenreich und im Hinblick auf die Befunde zum Teil heterogen. Dazu sind deshalb weitere Untersuchungen nötig, z. B. zur visuellen Gestaltung des virtuellen Raumes, zur optimalen Einbindung natürlicher Benutzerschnittstellen oder Navigationsmöglichkeiten. Die Technologienentwicklung und -erprobung im Rahmen angewandter Forschung muss sehr nah an den Bildungsbedarfen der Pflegeausbildung ansetzen. Neben mediendidaktischen Ergebnismaße müssen auch medientechnische Konzepte, wie z. B. die Usability, das User-Interface-Design oder die User-Experience, in Entwicklungs- und Evaluationsprozessen adressiert werden. Die Bildungseinrichtungen selbst benötigen für die Implementation technologiebasierter Erfahrungswelten wie VR eine umfassende Medienstrategie. Dabei geht es nicht nur um Gestaltungselemente wie die Implementierung der notwendigen IT-Infrastruktur, deren Sicherstellung sowie die Verfügbarkeit von Dienstleistungen und Fortbildungsangebote für Lehrkräfte. Im Vordergrund sollten auch Fragen einer medien- und lerntheoretisch begründeten didaktischen Reform stehen. VR als Bildungstechnologien sollen helfen, Bildungsprobleme zu lösen. VR könnten z. B. sehr gut in Skills Labs integriert werden, als ergänzendes Medium für Formen des Simulationstrainings. Weiterhin wären interaktive, virtuelle Patientenszenarien im Rahmen der fall- und problemorientierten Pflegedidaktik einsetzbar.
Welchen Risiken sehen Sie in Hinblick auf die Verwendung von VR in der Pflegeausbildung?
Es gibt auch Studien zu VR-Brillen-Anwendungen, die zeigen mit Blick auf Lernerfolge keinen Vorteil gegenüber weniger immersiven Bildungstechnologien oder traditionellem Medieneinsatz. Im Gegenteil: In einigen Fällen erwiesen sich die VR-Anwendungen sogar als kontraproduktiv aufgrund von Cybersickness, technologischen Herausforderungen oder weil die immersive Erfahrung von der Lernaufgabe ablenkt. Das eigentliche Risiko sehe ich in einer allein auf die Technologie fokussierten Perspektive. Mit der bloßen Verwendung von Bildungstechnologien gehen nicht per se Optimierungen einher. Es wird bei der Verwendung von VR immer um die Klärung der förderlichen und hinderlichen Rahmenbedingungen gehen. Dies sollte vor dem Hintergrund der spezifischen Nutzergruppen, der anvisierten Kompetenzen und der methodisch-didaktischen Umsetzung geschehen. Die Pflegepädagogik sollte hier eine differenzierte und optimistische Haltung einnehmen: Auf der einen Seite bieten VR zukünftig auch für die Pflegeausbildung neue Lern- und Trainingsmöglichkeiten, auf der anderen Seite geben VR die sinnlich reale Erfahrungswelt nur eingeschränkt wieder. Für die umfassende Kompetenzentwicklung bleibt ein Lernen in realen beruflichen Kontexten auch in Zukunft unentbehrlich.
Für Ihre Arbeit „Nah an der Realität. Lernen mit virtuellen Patienten“ stellen Sie anhand einer internationalen Klassifikation sieben unterschiedlichen Typen virtueller Patienten vor. Gab es während Ihrer intensiven Auseinandersetzung mit dem Themenfeld ein VR-Erlebnis, welches Sie besonders beeindruckt hat?
Wir haben uns in unserer Arbeit intensiv mit dem Phänomen des Präsenzerlebens in VR auseinandergesetzt. In immersiven und hoch-interaktiven VR entsteht beim Nutzer nach wenigen Minuten das Gefühl, in der virtuellen Umgebung als Person selbst anwesend zu sein. Dieses Präsenzerleben kann die Aufmerksamkeit auf die virtuelle Umgebung so stark verstärken, dass der Nutzer die physikalische Umgebung, z. B. den realen Trainingsraum, gedanklich ausblendet. Wir haben es sehr häufig erlebt, dass auch Test- bzw. Trainingsteilnehmer/innen, die keine medizinischen Vorkenntnisse hatten, in den entwickelten VR-Simulationsumgebungen sehr schnell und sehr engagiert versuchten, dem virtuellen Patienten zu helfen. Das war jeweils ein eindrucksvolles Erlebnis und ein Beleg dafür, dass immersive VR einen starken motivationalen Anreiz zum Handeln erzeugen.
Dieter Lerner
Ausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege, Weiterbildung in der Intensivpflege, Pflegestudium und Studium der Erwachsen- und Medienbildung. Dozent im Bereich der Aus-, Weiter- und Hochschulbildung von Gesundheitsfachberufen. Mitarbeit in Entwicklungs- und Forschungsprojekten zu virtuellen Realitäten und virtuellen Patienten.
Bildbeschreibung Foto 1:
Die Abbildung zeigt einen virtuellen Patienten in der VR-Trainingsumgebung i:medtasim. Der Trainingsteilnehmer (hier Notfallsantiäter) selbst wird auch als virtuelle Person (Avatar) in der VR-Umgebung dargestellt. Quelle: Abbildung mit freundlicher Genehmigung der TriCAT GmbH, Ulm