Es gibt keinen Ort im deutschsprachigen Internet, an dem leidenschaftlicher über das Thema chronische Wunden diskutiert wird als in der Facebook-Gruppe „Wundmanagement“. Sebastian Kruschwitz gründete 2011 die Gruppe, weil er nach seiner Ausbildung zum Wundexperten ICW und der darauffolgenden Qualifizierung zum Pflegetherapeuten Wunde ICW einen Weg suchte, um sich fortan mit Kursabsolvent*innen und Kolleg*innen auszutauschen, auch außerhalb Deutschlands. Heute ist die Facebook-Gruppe so groß (18.013 Mitglieder*innen), dass es den Mitglieder*innen nicht möglich wäre, gemeinsam ein Konzert in der Mercedes-Benz Arena in Berlin zu besuchen. Kruschwitz, der hauptberuflich als Fachbereichsleitung Wundmanagement im Zentrum für Beatmung und Intensivpflege in Berlin arbeitet, wird bei der Moderation der Gruppe von einem Team unterstützt, zu dem unter anderem Astrid Götz, Anja Goebel, Dr. Sebastian Probst und Paul Brodträger gehören.
In unserem Interview, das wir per ZOOM führten, wollten wir von Kruschwitz wissen, was er macht, wenn er keine chronischen Wunden versorgt; oder über diese schreibt. Welche die Themen sind, die die „Wundmangement“-Mitglieder*innen derzeit besonders umtreiben. Und er erklärte uns, woher seine Faszination für die chronischen Wunden stammt.
In den letzten Jahren gab es vielfach Artikel zu lesen, deren Verfasser*innen das Ende von Facebook kommen sahen. Eure Facebook-Gruppe scheint hingegen noch immer quicklebendig.
Sebastian Kruschwitz: Ja, wir wachsen noch immer, aber man sieht bei uns in der Gruppe auf jeden Fall, dass die Nutzer von Facebook älter geworden sind. Doch da kommen wir eigentlich ganz gut ins Spiel, denn wir fischen eine Altersgruppe ab, die eine gewisse Erfahrung mitbringt, was die Wundversorgung angeht. Die sie sich schon seit Jahren, teilweise sogar schon seit Jahrzehnten, mit der Versorgung von chronischen Wunden auseinandersetzen. Daher ist die Entwicklung eher ein Gewinn für uns. Zudem lassen sich auf den jüngeren Social-Media-Kanälen wie Tik Tok oder Instagram unsere komplexen Themen nicht gut abbilden. Das geht einfach nicht! Ich kann bei Instagram keine Wundbilder hochladen und dann sagen, los, kommentiert mal, sagt was dazu. Das wäre zu plakativ, zu platt. Für das Thema Wundmangement ist Facebook immer noch die beste Plattform.
Mit der du oft im Austausch stehst?
Sebastian Kruschwitz: Genau, ich muss denen immer wieder erklären, warum wir diese Bilder in unserer Gruppe posten. Wenn beispielsweise ein Tumor abgebildet ist, der eine bestimmte Form hat, dann schlägt deren Algorithmus Alarm, ein Gruppen-Vorstoß wegen sexueller Darstellung droht, da muss ich dann natürlich intervenieren.
Und bei welchen Kommentaren greifst du als Moderator ein?
Sebastian Kruschwitz: Schwierig wird es, wenn es um Produktempfehlungen geht, da sagen wir dann immer wieder: Leute arbeitet bitte mit den Oberbegriffen. Es sei denn das Produkt hat ein Alleinstellungsmerkmal. Dann kann man es natürlich auch so nennen. Aber Produktschlachten, ohne dass man hinterfragt, was noch alles mit dran hängt, sind nicht sinnvoll. Zuallererst sind andere Parameter wichtig. Wie sieht die Kausaltherapie aus? Welche Therapie lief bisher? Wo wird der Patient versorgt - im häuslichen Umfeld oder stationär? Erst ganz zum Schluss stellt sich die Frage der Wundauflage. Viel zu oft wird nur an der Symptomatik herumgebastelt. Das Drumherum ist entscheidend, darauf wird die Wundtherapie angepasst. Und nicht anders herum.
Anhand der Beiträge, die in der Gruppe geposted werden, wird deutlich, welche Themen die Branche derzeit beschäftigen. Welche wären das?
Sebastian Kruschwitz: Das sind natürlich in erster Linie die HKP-Richtlinien, die geändert wurden und für ordentlich Unruhe in der Versorgung sorgen. Außerdem laufen ja die antimikrobiellen Wundauflagen im Dezember 2023 aus. Viele haben bereits ihre Behandlungsstandards angepasst, trotzdem wird das noch ein großes Thema werden. Ich denke, das ist ein riesengroßer Fehler, das wird man zukünftig an den Amputationsraten sehen. Bei diabetischen Füßen hat man dann keine Handhabe mehr, Antiseptika werden da nicht ausreichen. Gut, wir haben natürlich auch Alternativen. Es gibt Neuerungen auf dem Markt, die man dann natürlich einsetzen könnte, die haben aber noch immer keine Evidenz, sie sind relativ kurz und neu auf dem Markt, aber letztendlich kann man nicht sagen, das ist jetzt langfristig die Lösung dafür. In der Schweiz, wo man 1-2 Jahre ohne antimikrobielle Wundauflagen arbeitete, ist man wieder zurückgerudert. Außerdem werden in der Gruppe immer öfter postoperative Wunden zum Thema. Wunden, die beispielsweise durch eine Bauch- oder Armstraffung anstehen, die nach hinten losgeht und sich infiziert. Viele Leute sind da wirklich allein gelassen, die wissen nicht, wo sie sich hinwenden sollen. Gerade all jene, die im Ausland operiert wurden, da fehlt dann natürlich die Betreuung nach der OP. Und, auch interessant, das Thema der Umweltbelastung, welche durch die Wundversorgungen entstehen, wird auch immer relevanter, vor allem durch eine neu Generation Wundtherpeuten, die bewusster mit der Thematik umgehen. Das finde ich gut. Denn es wird einfach zu Müll produziert, der nicht mal so einfach wieder verrottet, ich sag mal die ganzen Silikone, da muss was passieren. Da muss ein Umdenken stattfinden. Biokonforme Wundauflagen, die größenmäßig besser auf die Wunden passen, sodass wir nicht so einen großen Materialverschleiß haben, wären beispielsweise gut.
Auch KI beschäftigt die Branche. Wo siehst du realistische Einsatzgebiete?
Sebastian Kruschwitz: In der Wunddokumenation lässt sich sicherlich gut mit KI arbeiten. Da gibt es gute Ansätze, aber ich sehe bei dem Thema KI auch die Gefahr, dass der Mensch ein Stück weit verloren geht. Wundpatienten müssen immer individuell behandelt werden. Da braucht es einen Gegenpart, da braucht es Empathie, das kann nur ein Mensch. Zudem besteht das Risiko, dass wir durch KI in eine standardisierte Behandlung abrutschen.
Wie wurden eigentlich die chronischen Wunden zu deinem Thema?
Sebastian Kruschwitz: Eigentlich ist es ganz einfach, ich komme aus einer reinen Arztfamilie. Also, mein Opa war Radiologe. Meine Mutter Gynäkologin und mein Vater Chirurg – beide sind mittlerweile in Rente. Wenn wir beim Abendbrot zusammensaßen, dann war die Medizin und all die Themen, die mit ihr zusammenhängen, immer Thema. Damit bin ich aufgewachsen. So wurde ich sozialisiert. Nachdem mich das Thema chronische Wunden gepackt hat, hat es mich nie wieder losgelassen. Das war schon immer mein Steckenpferd.
Ganz zum Schluss unseres Gesprächs würden wir gern noch von dir wissen, was du in deiner Freizeit machst.
Sebastian Kruschwitz: Nicht besonders viel, mein Hobby ist mein Beruf. Ich kann es nicht anders sagen. Ich beschäftige mich wirklich sehr, sehr intensiv mit dem ganzen Thema. Ich muss auch sagen, dass ich wenige Leute kenne, die sich vom Thema Wundversorgung abgewandt haben, wenn sie sich einmal für die Richtung entschieden haben. Viele leben den Beruf, die sind mit Herzblut dabei. Das finde ich noch immer faszinierend. Die Community hält zusammen.