Darf es ein „Gesäßdekubitus“ für 7.540 Euro sein? Oder ein „ganzes Bein mit chronischen Wunden“ für 11.600 Euro? Wer sich durch den Online-Shop von Medical Effects Germany klickt, bekommt einen kleinen Eindruck davon, worin Nicholas Krützfeldt und sein Team unschlagbar gut sind: die Produktion von täuschend echt aussehenden Wunden. Die künstlichen Wunden von Medical Effects Germany werden meist von Krankenpflegeschulen, Universitäten oder privaten Firmen aus dem Medizinsektor für Lehrzwecke erworben. Bevor Nicholas Krützfeldt begann, in detailgetreuer Handarbeit chronische Wunden herzustellen, war er der „Herr der Hobbits“. Er arbeitete als Spezialeffekt-Designer in der Filmbranche, unter anderem in Neuseeland, dort fertigte er für „Herr der Ringe“ Zwergenfüße und Hobbitmasken an. Zurück in Deutschland fragte Krützfeldt sich, wo hierzulande seine Fertigkeiten gebraucht werden könnten; kam auf die Medizinbranche und spezialisierte sich. Wir finden seine Arbeit so beeindruckend, dass wir ihn um ein Interview baten. Aufgrund der Corona-Pandemie führten wir das Gespräch per Telefon. Kein allzu leichtes Unterfangen, denn Krützfeldt lebt und arbeitet auf einem alten, umgebauten Bauernhof, der mitten in einem Naturschutzgebiet steht, der Mobilfunkempfang dort mäßig. Ein Balken auf seinem Handy-Display gehört zu den guten Tagen. Doch nach ersten Minuten, in denen der Interviewer ausschließlich ferne Geräusche vernahm, die sich nur schwer transkribieren lassen würden, verbesserte sich die Lage und Krützfeldt antwortete - klar und deutlich - auf unsere erste Frage: „Ich lebe hier mit meiner Freundin, ein paar Fledermäusen auf dem Dach, Eulen und natürlich unseren drei Schweinen: Die Dickste heißt Lucie, die zweitdickste Elise und der kleine Eber Steve. Wenn ihr jetzt einen Blick durch die großen Türen in mein lichtdurchflutetes Studio werfen könntet, würdet ihr dort meinen Mitarbeiter Felix Lamparter sehen, der gerade dabei ist, ein durchsichtiges Tracheostoma zu vollenden.“ Wenn man den Spezialisten für künstliche Wunden zu den Gründen befragt, warum er die Filmbranche verließ, um sein eigenes Ding zu machen, fällt auch der Begriff Nachhaltigkeit. Als ich in Neuseeland gearbeitet habe, so Krützfeldt, kamen teilweise große Frachter schwer beladen mit Fässern voll mit Silikon, aus denen wir dann unerreichbar gute Special Effects herstellten. Doch, so fährt Krützfeldt fort, die Filmindustrie ist eine Wegwerfindustrie, aus rechtlichen Gründen wird alles nur einmal genutzt, nach der Produktion wird alles geschreddert. Arbeiten, in die Künstler und Handwerker viel Kraft gesteckt haben, einfach weg, das hat mich verletzt, so Krützfeldt. Auch bei der Erstellung seiner selbst klebenden Wunden kommen Chemikalien und nicht abbaubare Materialien wie Silikon und Polyurethan zum Einsatz. Doch schlussendlich werden langlebige Produkte erschaffen, auf die es bei Medical Effects Germany eine 5-Jahres-Garantie gibt. Produkte, deren Herstellung äußerst zeitaufwendig sind. Für ein flaches, reproduziertes Wundmodell braucht Krützfeldt und sein Team ein bis zwei Wochen. Bei größeren Arbeiten ist es schon mal ein halbes Jahr. Auf die Frage, ob eine Wunde ästhetisch sein kann, kommt Krützfeldt ins Schwärmen: „Ich weiß, dass Menschen Dinge, die verwesen, die verfallen, grundsätzlich als abstoßend empfinden, doch ich finde, dass das durchaus ästhetisch sein kann. Die Farben und Formen, die bei einem Zersetzungsprozess entstehen, empfinde ich als ausgesprochen interessant. Bei meinen Wundmodellen trage ich Schicht für Schicht Farbe auf, von innen nach außen, bis zu 20 Schichten semi-transparentes Silikon werden so von uns bearbeitet. So entsteht eine realitätsgetreue Nachbildung. Das Einzige, das zum Ende von außen drauf kommt, sind Flüssigkeitsimitate in Form von gewissen Belägen.“ Zu Recherchezwecken ist Krützfeld auch schon mal auf eine Wundvisite mitgekommen. „Das war, um ehrlich zu sein, teilweise ein bisschen schockierend, das Leid der Menschen zu sehen. Das Erlebnis hat mich in meiner Arbeit bestärkt. Denn durch uns kommen Auszubildende und Studierende erst einmal mit unseren täuschend echt aussehenden Wunden in Kontakt, bevor sie tatsächlich vor einer echten Wunde stehen. Erste Reaktionen, seien sie auch noch so subtil, treffen dann keine Menschen, sondern unsere Gummiteile“, so Krützfeldt. Ganz zum Ende unseres Gesprächs geht es noch kurz um eine Anekdote aus seiner Kindheit. Den Moment, in dem alles begann: „Ich war 10 Jahre alt, hatte gerade den ersten „Herr der Ringe“ Film im Kino gesehen, kam nach Hause und begann, inspiriert von den Kämpfen, in denen Aragorn einem Ork den Kopf abschlug, am Küchentisch zu zeichnen. Meine Mutter war erst verwundert, doch dachte sich dann, ach, der Junge wird das schon nicht allzu ernst meinen und kein Amokläufer oder so etwas werden.“ Sie sollte Recht behalten. Damals am Küchentisch wurde die Basis für all jene Eigenschaften gelegt, die heute Krützfeldts Arbeit einzigartig in Deutschland machen: Fantasie, einer gewissen Faszination für das Morbide und Detailversessenheit.